Religiöse Freiheit
Hannover. „Indonesien ist auf dem gleichen Weg wie Pakistan“, prophezeit Andy Budiman. Er hält einen Kugelschreiber in der linken und einen weiteren in der rechten Hand. „Wenn hier die Toleranz ist“, Budiman hebt den linken Stift, „dann bewegt sich Indonesien immer mehr auf die Intoleranz zu.“ Er wackelt leicht mit dem rechten Stift.
Budiman verfolgt die religiösen Spannungen in seiner Heimat genau. Derzeit arbeitet er in der indonesischen Redaktion der Deutschen Welle in Bonn. Am Mittwochabend, 21. November 2012, ist Budiman zu Gast beim Kirchlichen Entwicklungsdienst in Hannover.
Das Thema des Abends: Wie gestaltet sich Religionsfreiheit im größten muslimischen Land der Welt?
Journalist Andy Budiman und die indonesische Generalkonsulin Marina Estella Anwar Bey präsentieren die aktuelle Lage und stellen sich im Anschluss den Fragen des Publikums.
Bis in die hinterste Reihe stehen die Besucher der zweiten Podiumsdiskussion der Themenreihe Indonesien. Genauso vielfältig wie das asiatische Land ist das Publikum: Deutsche Studenten sitzen neben weitgereisten Senioren und jungen Indonesiern in bunten Hemden. Alle lauschen den Ausführungen der beiden Podiumsgäste.
Jahrelanger Streit um die Jasminkirche
Seit 2002 ein Streitpunkt: Die Jasminkirche in Bogor auf der Insel Java. Obwohl die Zentralregierung in Jakarta dem Kirchenbau schon vor zehn Jahren zugestimmt hat, muss die evangelische Gemeinde ihre Gottesdienste weiterhin unter freiem Himmel abhalten. Der Bürgermeister von Bogor findet immer neue Gründe die Fertigstellung der Kirche zu verhindern.
Für Andy Budiman ist dies kein Einzelfall: „In Indonesien gilt eine Trennung zwischen Staat und Religion. Trotzdem wird in 350 Dörfern islamisches Gesetz angewandt.“ So auch in der Provinz Aceh. In der Hauptstadt Banda Aceh habe die lokale Polizei 300 Frauen festgenommen, weil sie gegen die muslimische Kleiderordnung verstoßen haben. Diese besagt, dass die Muslima ihren ganzen Körper bis auf Füße und Gesicht verhüllen muss. Radikale Islamisten peinigten die unverhüllten Frauen, indem sie ihnen die Harre abschnitten oder mit Farbe übergossen. „Anderen Frauen, die lange Hosen trugen, wurden die Hosen zerschnitten“, erzählt Andy Budiman.
Verfassung garantiert Religionsfreiheit
Seit der Unabhängigkeit 1945 basiert die indonesische Verfassung auf den fünf Gedanken der Pancasila. Diese umfasst den Internationalismus, die nationale Einheit, Demokratie und soziale Gerechtigkeit. Der erste Grundsatz unterstreicht den Glauben an einen, allmächtigen Gott. „Unsere Verfassung garantiert jedem Bürger die Religionsfreiheit“, sagt Generalkonsulin Marina Estella Anwar Bey.
Im Vielvölkerstaat Indonesien leben mehr als 240 Millionen Menschen. Fast neunzig Prozent von ihnen bekennt sich zum Islam. Christen stellen in Indonesien die größte religiöse Minderheit. 6,9 Prozent der Bevölkerung sind Protestanten, knapp drei Prozent bekennen sich zum Katholizismus. Noch weniger, nämlich 1,6 Prozent sind Hinduisten und weniger als ein Prozent der Indonesier folgen dem Buddhismus oder dem Konfuzianismus.
All diese Religionen leben laut Verfassung gleichberechtigt nebeneinander. So haben Indonesier sowohl am Ende des Ramadan frei, wie auch an Weihnachten oder dem balinesischen Fest Galungan. Obwohl der überwiegende Teil der Bevölkerung Muslime sind, sei Indonesien kein islamischer Gottesstaat, betont Marina Anwar Bey. „Meine Familie, wir sind Christen und wir leben Seite an Seite mit den Muslimen. Es gibt immer noch eine sehr große Toleranz.“
Als internationales Vorbild führt sie das Demokratie-Forum auf der Insel Bali an. Seit 2008 treffen sich hier jedes Jahr Staatschefs aus der ganzen Welt und diskutieren, wie Friedenspolitik demokratisch durchzusetzen sei. Bereits seit 1998 arbeite die Regierung an umfassenden Reformen in Politik und Wirtschaft. Die Generalkonsulin wirft einige Punkte an die Wand. So fördere die indonesische Regierung den interreligiösen Dialog und die Toleranz gegenüber Minderheiten. Besonders wichtig sei die Zusammenarbeit mit religiösen Institutionen und Bildungseinrichtungen. Hier entstehe oft religiöser Fanatismus. Die Politik versuche radikale Bewegungen im Keim zu unterbinden.
Besucherin Brigitte Willach berichtet von Panzerfahrzeugen und Polizisten, die in der Hauptstadt Jakarta eine Kirche bewachten. Weihnachten unter Polizeischutz. „Da hatten wir schon ein mulmiges Gefühl im Bauch, als wir Weihnachten zur Messe gegangen sind“, erinnert sich Willach. Diese Spannungen seien ihr aber nur in Jakarta aufgefallen. In anderen Teilen des Landes leben Muslime, Hindus und Christen friedlich nebeneinander.
Akademiker denken radikal intolerant
Schon heute toleriert eine von vier Indonesiern Gewalt, um religiöse Konflikte zu lösen. 22 Prozent der Bevölkerung sind der Terrorgruppe Al Qaida gegenüber positiv eingestellt. Darunter sind leider auch Akademiker. Sie wurden offensichtlich durch Bildung verunsichert statt in der eigenen Identität gestärkt. Toleranz fällt ihnen schwer. „Zahlen die alarmieren“ so lautet Budimans motivierter Gewalttaten angemessen zu bestrafen. Im Moment hätten Richter Angst, gegen Übergriffe hart vorzugehen. Religiöse Minderheiten werden so weiterhin diskriminiert,
Unterstützen statt nur anklagen
„Wir sprechen von zwei ganz unterschiedlichen Problemen“, erläutert Generalkonsulin Anwar Bey, „ Das eine sind soziale Konflikte, das andere Gewalt, die von radikalen Gruppierungen ausgeht.“ Um diese beiden Probleme in den Griff zu bekommen, müsse die Zentralregierung in Jakarta die Verfassung in allen Provinzen durchsetzen. Eine echte Herausforderung in einem Land, dass vom östlichsten bis zum westlichsten Punkt gut 5000 Kilometer umspannt. Hinzu kommt, dass die Indonesier auf mehr als sechs tausend Inseln wohnen.
Generalkonsulin Anwar Bey kommt zu dem Schluss, dass die indonesische Regierung viel von Deutschland lernen könne. Besonders im verantwortungsvollen Umgang mit Sicherheitskräften und der Polizei. In Indonesien müssen sich die demokratischen und regionalen Strukturen erst festigen. Die Polizisten wüssten oft nicht, wie sie die gewalttätigen Konflikte lösen sollen.
Marina Estella Anwar Bey hofft auf die Hilfe der deutschen Regierung: „Man sollte nicht immer nur die Missstände anprangern, sondern uns auch unterstützen.“
Ein erster Schritt ist getan. Im vergangenen Jahr waren indonesische Parlamentarier in Berlin, um sich beim zweiten Interreligiösen Dialog über das Zusammenleben verschiedener Religionen auszutauschen. Dabei konnten sie zugleich einen Einblick in das föderale System zu gewinnen. Indonesien will weg von der Zentralregierung hin zum dezentralen Inselstaat, der sich an den Provinzen orientiert.
Neben dem Kirchlichen Entwicklungsdienst der evangelisch-lutherischen Landeskirche in Braunschweig und Hannovers (KED) hatten zu dem Abend folgende Organisationen eingeladen:
Die Vereinigung Indonesischer Studenten in Hannover (PPI), die Indonesische Katholische Studentenfamilie (KMKI), der Muslimische Verein Hannover (KMH) sowie die Balinesische Gemeinde Deutschland (NBB).
Moderatorin Dr. Cornelia Johnsdorf bedankte sich besonders beim hauptverantwortlichen KED-Referenten Christian Riawan-Seibert, der zwischenzeitlich sogar als Übersetzter einsprang. Nach der Diskussion blieb bei einem indonesischen Buffet genug Zeit, um auch die letzte Frage persönlich zu klären.
Christoph Niekamp
Bereits im 2. Jahrhundert breiteten sich der Hinduismus und der Buddhismus aus Indien aus. Arabische Händler brachten ab dem 7. Jahrhundert den Islam nach Südostasien. Ab dem 13. Jahrhundert entstanden auf Sumatra und anderen Inseln muslimische Königreiche, in denen sich der Islam verbreitete. Mit Ankunft der Portugiesen im 15. Jahrhundert erreichte der Katholizismus einige östlich gelegene Inseln. Die Niederländer brachten hundert Jahre später den protestantischen Glauben nach Java und auf andere Inseln. Im 19. Jahrhundert gründete ein Deutscher auf Sumatra die derzeit größte evangelische Kirche in Indonesien. Die kleinste offiziell anerkannte Religionsgemeinschaft der Konfuzianisten besteht fast ausschließlich aus chinesischen Einwanderern.
Bildung
Der KED-Infoabend am 23. November 2016 fand im Rahmen des Programms „November der Wissenschaft“ der Landeshauptstadt Hannover statt. Im Mittelpunkt stand das Bildungssystem in Indonesien. Der Wirtschaftswissenschaftler Dr. Jan Priebe von der Universität Göttingen, der im Auftrag der Weltbank die indonesische Regierung in Jakarta berät, berichtete über aktuelle Programme, mit denen die Schulbildung dort besonders in armen ländlichen Gegenden verbessert werden soll. Zuvor erläuterte die extra aus Hamburg angereiste Generalkonsulin der Republik Indonesien, Sylvia Arifin, in einem ausführlichen Grußwort die Rahmenbedingungen indonesischer Bildungspolitik. In einem weiteren Grußwort berichtete der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CDU im Niedersächsischen Landtag, Dirk Toepffer, von den Erfahrungen, die er im Rahmen einer Wirtschaftsdelegation in Indonesien gemacht hatte.
Im Bildungsniveau und im Zugang zu gut bezahlten Jobs gibt es in Indonesien, wie Jan Priebe ausführte, je nach Region und Einkommen der Familien große Unterschiede. Beim Ausbau des staatlichen Bildungswesens seit den 1970er Jahren wurden außerhalb der Städte zahlreiche Lehrkräfte ohne angemessene Ausbildung und mit entsprechend geringem Gehalt eingestellt, die nicht selten ihre Unterrichtspflicht zugunsten einträglicher Nebenjobs vernachlässigen. In Familien, die seit Generationen ohne Schulbildung in der Landwirtschaft arbeiten, wird teilweise auch der Nutzen formaler Bildung gar nicht als besonders hoch eingeschätzt und kaum Wert darauf gelegt, dass Kinder und Jugendliche erfolgreich das zwölfjährige Schulsystem durchlaufen. Neue Programme der Regierung beinhalten z. B. Stipendien für Schülerinnen und Schüler aus einkommensschwachen Familien unter der Bedingung, dass diese regelmäßig am Unterricht teilnehmen; ebenso sind auch attraktive Gehaltszuschläge für zertifizierte Lehrerinnen und Lehrer an deren regelmäßige Präsenz in den Schulen gebunden. Auf der Basis regelmäßiger Evaluationen, an denen der Referent selbst beteiligt ist, werden diese Fördermechanismen kontinuierlich nachjustiert.
An der lebhaften Diskussion im voll besetzten Saal beteiligten sich neben Fachleuten aus der Entwicklungsökonomik u. a. auch deutsche und indonesische Studierende aus Hannover und Braunschweig, von denen sich einige auch selbst entwicklungspolitisch – z. B. in den Vereinen BUGI und Weitblick – engagieren.
Andreas Kurschat
Kirchliches Engagement in indonesisch-deutscher Zusammenarbeit hat in der Provinz Nord-Sumatra eine Einrichtung hervorgebracht, die blinden Kindern und Jugendlichen sowohl eine gute Schulbildung als auch Möglichkeiten der beruflichen Qualifikation bietet, sodass sie ihre Persönlichkeit entfalten und später ein möglichst eigenständiges Leben führen können. Unweit der Provinzhauptstadt Medan ist seit 1977 ein Schulcampus entstanden, der speziell dem Leben und Lernen ohne Augenlicht gewidmet ist.
Dort gibt es ein Internat für rund 80 Kinder und Jugendliche, die aus der gesamten Provinz Nord-Sumatra oder sogar von weiter her dorthin kommen. Anders als es bei ihnen zu Hause möglich wäre, werden sie an diesem Ort gezielt gefördert, „… damit Hände und Füße sehen können“ – so lässt sich das Motto übersetzen, an dem sich die pädagogische Arbeit dort orientiert. Die Bildungseinrichtung, die in Form einer Stiftung organisiert ist, trägt den Namen Yayasan Pendidikan Tunanetra Sumatera (YAPENTRA).
Obwohl der YAPENTRA-Campus an einer Hauptverkehrsader zwischen der Millionenstadt Medan und dem Landesinnern liegt, wirkt er angenehm ruhig und geschützt. Die freundlich-hell gestrichen Gebäude der Stiftung sind von Grünanlagen umgeben, zu denen neben Spielwiesen auch Nutzgärten und Fischteiche gehören.
Für die unteren Klassenstufen verfügt die Stiftung über eigene Lehrkräfte und Unterrichtsräume direkt auf dem Campus. Um in höheren Klassenstufen Unterricht zu erhalten, werden die Heranwachsenden in benachbarte öffentliche Schulen gefahren. Berufliche Bildung findet in Werkstätten auf dem Stiftungsgelände statt. Ein Teil der laufenden Kosten wird durch den Verkauf von Produkten gedeckt, die auf dem Campus produziert werden, doch die Stiftung ist auch auf Spenden angewiesen.
Die Initiative zur Gründung von YAPENTRA ging von einer in Nord-Sumatra ansässigen Kirche aus, der Gereja Kristen Protestan Indonesia (GKPI), deren Mitglieder überwiegend der Volksgruppe der Toba-Batak angehören. Die Wurzeln dieser evangelischen Kirche reichen ins 19. Jahrhundert zurück, als Christen aus Deutschland im Auftrag der Rheinischen Missionsgesellschaft bei den Toba-Batak wirkten und dort mit dem Bau von Kirchen, Schulen und Krankenhäusern begannen.
Von den historisch gewachsenen Beziehungen der GKPI nach Deutschland profitiert in gewisser Weise auch YAPENTRA. Denn die Stiftung entstand im Rahmen einer indonesisch-deutschen Kooperation mit der Hildesheimer Blindenmission (HBM), einem Verein mit deutlichem evangelischen Profil, der sich zuvor bereits viele Jahre lang für das Wohl blinder Menschen in anderen Regionen Asiens eingesetzt hatte und dies auch weiterhin tut. In Indonesien fördert die HBM neben dem YAPENTRA-Campus auf Sumatra auch eine Blindenschule in Surabaya im Osten Javas. In Deutschland wirbt die HBM zu diesem Zweck um Spenden oder um die Übernahme individueller Patenschaften für blinde Kinder in Indonesien.
YAPENTRA hat sich als christliche Stiftung in einem Umfeld etabliert, in dem nicht nur die Volksgruppe der Toba-Batak, sondern auch das Christentum eine Minderheitsstellung einnimmt. Der Direktor von YAPENTRA ist ein Pastor der GKPI. Der christliche Charakter der Stiftung wird in der öffentlichen Darstellung mit biblischen Worten unterstrichen, deren indonesische Übersetzung sich folgendermaßen wiedergeben lässt: „Leben aufgrund des Glaubens, nicht aufgrund des Sehens“ (2. Korinther 5,7). Das Logo der Stiftung zeigt – ähnlich wie das Logo der HBM – ein stilisiertes Auge mit hellgrüner Pupille und dunkelgrüner Konturlinie, die zugleich die Form eines Fisches und somit eines der ältesten Christussymbole ergibt.
Das Bildungsangebot von YAPENTRA richtet sich jedoch keineswegs nur an Angehörige der Kirche. Die Kinder und Jugendlichen werden unabhängig von ihrer religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit aufgenommen, und so ist unter ihnen z.B. auch der Islam vertreten, dem die große Mehrheit der Bevölkerung in der ausgedehnten Küstenebene um den Campus herum angehört.
Die nachhaltige Wirksamkeit der pädagogischen Arbeit von YAPENTRA zeigt sich besonders eindrucksvoll am Beispiel eines blind geborenen Menschen, der im Alter von 13 Jahren als Analphabet dort aufgenommen wurde und die Schule so erfolgreich absolvierte, dass er später englische Literatur studieren und einen Master-Abschluss erwerben konnte. Anschließend kehrte er an die YAPENTRA-Schule zurück, um dort nun selbst als Lehrer zu unterrichten.
Das Anliegen, die Lebensbedingungen blinder Menschen in Indonesien zu verbessern, hat auch der KED bereits in unterschiedlicher Form unterstützt. So bezuschusste er z.B. Vorführungen des indonesischen Spielfilms „Jingga“ in Hannover und Göttingen im Beisein der gesellschaftspolitisch engagierten Regisseurin Lola Amaria, die in diesem Film die Situation blinder Jugendlicher in Indonesien in den Fokus nimmt. An einer Gottesdienstreihe der Bugenhagen-Gemeinde Hannover beteiligte sich der KED mit der Gestaltung eines Themengottesdienstes zu Mission und kirchlicher Entwicklungsarbeit in Indonesien, in dem u.a. das Engagement der HBM hervorgehoben und ihr hierfür ein Teil der Kollekte zugedacht wurde.
Auch weiterhin trägt der KED gern zur Stärkung und Vernetzung von Akteuren bei, die sich in Niedersachsen solchen Anliegen widmen.
Andreas Kurschat
Klima und Umwelt
KED-Infoabend: Mehr Moor für den Klimaschutz
Moore in Niedersachsen und Moorregenwälder auf Borneo (Indonesien) bildeten die Themenschwerpunkte beim KED-Infoabend am 6. November 2023 im Rahmen des Programms „November der Wissenschaft“ der Landeshauptstadt Hannover. Über viele Jahre hinweg sind ausgedehnte Moorlandschaften weltweit durch Eingriffe wie Torfabbau, Abholzung und die Umwandlung in Acker-, Plantagen- oder Siedlungsland verloren gegangen – mit negativen Folgen nicht nur für die Artenvielfalt, sondern auch für das Klima. Denn Moore sind natürliche Kohlenstoffspeicher und wirken dadurch äußerst effizient dem Treibhauseffekt entgegen.
Prof. Dr. Dr. h.c. Hans Joosten, international bekannter Moorwissenschaftler vom Greifswald Moor Centrum, stellte diesen Zusammenhang in seinem Überblicksvortrag anschaulich dar: Schon eine 15 Zentimeter dicke Torfschicht enthält mehr Kohlenstoff pro Hektar als ein viele Meter hoch gewachsener tropischer Regenwald. Werden Moore jedoch entwässert, so verrottet die organische Substanz und verwandelt sich in Kohlendioxid, das dann den Treibhauseffekt verstärkt. Joosten zufolge gehört Deutschland im weltweiten Vergleich zu den zehn Ländern mit den höchsten Treibhausgasemissionen aus trockengelegten Moorgebieten, von denen viele in Niedersachsen liegen.
Ulrich Sippel, stellvertretender Referatsleiter im Niedersächsischen Ministerium für Umwelt, Energie und Klimaschutz, stellte das Programm Niedersächsische Moorlandschaften vor, mit dem die Landesregierung eine verstärkte Wiedervernässung von Mooren anstrebt. Er wies darauf hin, dass insbesondere die landwirtschaftliche Nutzung von Moorlandschaften als Acker- oder Intensivgrünland hohe Treibhausgas-Emissionen verursacht. Als einfach zugängliche Informationsquelle zur Situation in Niedersachsen empfahl er das speziell für dieses Bundesland entwickelte Online-Moorinformationssystem MoorIS.
Nina-Maria Gaiser, Projektmanagerin im Bereich Wald- und Biodiversitätsschutz beim Verein BOS – Borneo Orangutan Survival Deutschland in Berlin, berichtete von der praktischen Arbeit der Wiedervernässung im Bereich des Torfmoorregenwaldes Mawas auf der indonesischen Insel Borneo, wo Lebensraum für die vom Aussterben bedrohten Orang-Utans wiederhergestellt wird. Indonesien ist bekannt für seine dramatischen Verluste an intakten Moorlandschaften in den letzten Jahrzehnten. Inzwischen gibt es dort jedoch vermehrt Projekte zur Wiedervernässung, Aufforstung und Feuerprävention. Über das BOS-Projekt in Mawas informiert eine spezielle Internetseite: www.lebenswald.org.
Das Interesse an der Veranstaltung beim KED war groß: Mit über 50 Personen – darunter Studierende ebenso wie Fachleute verschiedener Forschungseinrichtungen, Angehörige von Umweltschutzorganisationen und weitere Interessierte – war der Saal bis auf den letzten Platz gefüllt. Die Gelegenheit zur Diskussion mit den drei Gästen auf dem Podium wurde intensiv genutzt.
Andreas Kurschat
Wie kann der Handel mit nachhaltigem Palmöl zur Erhaltung der Umwelt beitragen? So lautete eine Leitfrage des KED-Infoabends am 9. November 2021. Ein konkretes Beispiel für öko-faire, entwaldungsfreie Palmölproduktion war bereits Thema eines früheren KED-Infoabends am 21. November 2018 gewesen. Die Nachfrage nach entsprechend zertifizierten Produkten hält sich in Deutschland (und erst recht auf globaler Ebene) bislang allerdings in Grenzen.
Bei der diesjährigen Online-Veranstaltung im Rahmen des von der Landeshauptstadt Hannover koordinierten Programms „November der Wissenschaft“ ließ KED-Referent Andreas Kurschat das Thema „Palmöl – nachhaltige Produktion als Chance?!“ aus verschiedenen Perspektiven beleuchten.
Jens Herrnberger, Initiator der Regionalgruppe Hannover-Braunschweig der Tierschutzorganisation Borneo Orangutan Survival (BOS), wies eingangs darauf hin, dass konventionelle Palmölplantagen besonders im weltweit wichtigsten Produktionsland Indonesien in den letzten Jahrzehnten erheblich zur Verringerung des Regenwaldes beigetragen und so den Fortbestand von Orang-Utans und anderen Lebewesen gefährdet haben.
Karoline Kickler, Projektmanagerin im Bereich Naturschutz bei der Deutschen Umwelthilfe (DUH) in Berlin, stellte ein aktuelles, von der Bundesregierung finanziertes Projekt vor, das darauf abzielt, Anforderungen zum entwaldungsfreien, nachhaltigen Ölpalmenanbau als Muss-Kriterium im öffentlichen Beschaffungswesen zu verankern. Im nachhaltigen Anbau sind neue Rodungen wertvoller Ökosysteme verboten und auf bestehenden Plantagen müssen grundlegende Menschen- und Arbeitsrechte eingehalten werden. Neben Mindeststandards (z.B. RSPO: Runder Tisch für nachhaltiges Palmöl) kann das öffentliche Beschaffungswesen Zusatzmaßnahmen einfordern, z.B. fairen Handel oder Bio-Anbau, eine verbesserte Rückverfolgbarkeit des Palmöls, Satellitenbildnachweise zum Walderhalt und Engagement zur Unterstützung von Kleinbauern. Palmölbasierte Produkte, die im öffentlichen Sektor eine wesentliche Rolle spielen, sind Wasch- und Reinigungsprodukte sowie Lebensmittel. Bei der Erstellung der Vergabeunterlagen berät die DUH die öffentlichen Stellen und nimmt Kontakt zu Herstellern auf, um eine Ausweitung des Angebots verantwortungsvoller Produkte voranzutreiben.
Jennifer Daubert, Sachbearbeiterin im Bereich Zentrale Vergabe der Landeshauptstadt Hannover, gab einen Einblick in die Umsetzung dieses Projekts, in dem Hannover als bundesweit erste Modellkommune eine wichtige Rolle spielt. Bei der kommunalen Beschaffung von Seifen wurde in einem ersten Schritt die Sicherstellung nachhaltiger Produktionsbedingungen auf den Plantagen über Zertifikate eingefordert. Darüber hinaus beteiligte Hannover sich an der Durchführung einer DUH-Umfrage unter rund 30 Reinigungsproduktherstellern und nahm am darauffolgenden Lieferantendialog teil. Das Projekt soll dadurch eine strengere Überwachung des nachhaltig zertifizierten Ölpalmenanbaus und weitere Verbesserungen anregen. Hierbei sind alle Akteure der Lieferkette gefragt, insbesondere Chemieunternehmen (z.B. BASF), die einen großen Teil der Hersteller beliefern.
Zahlreiche Reinigungsmittel enthalten Substanzen auf Palmölbasis. Jedoch wird dies nur selten freiwillig deklariert. Ob Inhaltsstoffe aus fossilem oder pflanzlichem Ursprung stammen, wird verschleiert. Eine gesetzliche Kennzeichnungspflicht hat die Bundesregierung bisher noch nicht eingeführt. Bei Lebensmitteln ist das anders: Sind pflanzliche Öle oder deren Verarbeitungsprodukte enthalten, so muss bereits seit 2014 genau angegeben werden, von welcher Pflanze sie stammen.
Palmöl ist jedoch, wie Karoline Kickler von der DUH betonte, keineswegs das einzige Pflanzenöl, für dessen Produktion wertvolle Waldgebiete in tropischen Regionen geopfert werden. Gleiches gilt auch für Kokos- und Sojaöl, bei denen der Flächenbedarf pro Tonne Öl sogar noch viel größer ist als bei Palmöl.
Die DUH empfiehlt, Palmöl in Lebensmitteln teilweise durch hochwertige heimische Pflanzenöle wie Raps-, Sonnenblumen- und Olivenöl zu ersetzen. Ein völliger Verzicht auf palmölhaltige Produkte trägt aus verschiedenen Gründen jedoch nicht zur Lösung des Entwaldungsproblems bei: Keine andere Ölpflanze ist so produktiv wie die Ölpalme und ein Boykott würde die Produktionsländer ohnehin nicht von einer weiteren Expansion der Monokulturen abhalten. Verstärkte Kooperation und Finanzhilfen für einen nachhaltigen Wandel des Ölpalmsektors und den Schutz verbliebener Wälder sind jetzt dringend notwendig – nicht ein plötzlicher Rückzug.
Wer im Supermarkt beim Kauf eines Lebensmittels möglichst sichergehen möchte, dass die Lieferkette wirklich nachhaltig ist, sollte auf eine Kombination verschiedener Siegel achten: Wie Karoline Kickler von der DUH erläuterte, bietet eine Kombination von Bio-Siegel (z.B. EU oder Naturland), Fair-Handels-Siegel (z.B. Fair for Life) und Siegel für entwaldungsfreien Anbau (z.B. RSPO) eine gute Gewähr.
Andreas Kurschat
Im Rahmen des Programms „November der Wissenschaft“ besuchten knapp 40 Teilnehmende am 21. November 2018 den Vortrags- und Diskussionsabend zum Thema Palmöl, zu dem der KED in Kooperation mit der Umweltschutzorganisation BOS Deutschland e.V. (Borneo Orangutan Survival) eingeladen hatte.
Der Entwicklungsökonom Dr. Christoph Kubitza von der Universität Göttingen, der dort im Sonderforschungsbereich „Ökologische und sozioökonomische Funktionen tropischer Tieflandregenwald-Transformationssysteme (Sumatra, Indonesien)“ arbeitet, gab einleitend einen Überblick über die Bedeutung von Palmöl als Wirtschaftsfaktor. Indonesien ist der weltgrößte Exporteur von Palmöl und verbraucht auch selbst große Mengen davon. Nicht nur für große Konzerne, sondern auch für viele Kleinbauern ist der Ölpalmenanbau ökonomisch attraktiv. Für neue Anbauflächen wird immer mehr Regenwald zerstört, Umweltschäden haben massive Ausmaße angenommen.
Nina-Maria Gaiser, Projektmanagerin bei BOS Deutschland in Berlin, schilderte die Umweltfolgen am Beispiel der vom Aussterben bedrohten Orang-Utans. Sie mahnte dazu, Nachhaltigkeitsstandards weltweit besser durchzusetzen und die Beimischung von Palmöl in Treibstoffen für Autos zu beenden.
Wie sich der Ölpalmenanbau umweltverträglicher gestalten lässt, erläuterte die Forstwissenschaftsstudentin Johanna Kückes, die im Rahmen ihrer Masterarbeit an der Universität Göttingen den Wasserkreislauf im Umfeld von Ölpalmenplantagen auf Sumatra analysiert. In den dortigen Monokulturen können ökologische Verbesserungen dadurch erzielt werden, dass zwischen den Ölpalmen inselartige Gruppen anderer Bäume angepflanzt werden, deren Früchte sich ebenfalls ökonomisch verwerten lassen.
Lutz Heiden, Vertriebsmitarbeiter bei der Fair-Handels-Firma GEPA in Berlin, veranschaulichte schließlich am Beispiel des GEPA-Partners Serendipalm in Ghana, wie sich Palmöl auf kleinbäuerlicher Basis zu ökonomisch fairen und ökologisch nachhaltigen Bedingungen produzieren und vermarkten lässt.
Palmöl ist in bestimmten Lebensmitteln nicht ohne Qualitätseinbußen durch andere Öle ersetzbar. Zudem ist bei allen anderen Ölpflanzen der Flächenverbrauch (z.T. in denselben tropischen Regionen) sogar noch größer als bei Ölpalmen. Positive Beispiele wie dasjenige aus Ghana zeigen, dass es falsch wäre, Palmöl pauschal zu verteufeln. Im Rahmen unserer Ernährung haben wir allerdings die Möglichkeit, nicht nur beim Palmöl, sondern auch bei allen anderen pflanzlichen Ölen und sonstigen Zutaten auf Nachhaltigkeitszertifikate zu achten und Produkte zweifelhafter Herkunft zu meiden.
Andreas Kurschat